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Verlogen, dumm und unverschämt

Kulturindustrie von 1977 bis heute


Dieser Essayband versammelt Texte Christof Wackernagels von 1977 bis heute, beginnend mit Reflexionen zur Rolle der RAF, deren Mitglied er war, weswegen er 10 Jahre in verschiedenen Gefängnissen verbrachte, bis hin zur Dokumentation der Situation im afrikanischen Mali, wo er 10 Jahre in der Hauptstadt Bamako lebte. Die Texte dokumentieren seine kritische Auseinandersetzung mit der Haltung der Kulturindustrie und ihrer Rolle innerhalb der gesellschaftlichen Tendenz zu einer Meinungseinebnung, die einzig das Ziel verfolgt, gesellschaftliche Verhältnisse, politische Machtpositionen und wirtschaftliches Handeln der Profitmaximierung zu zementieren.

Leseprobe:

Tatort: Der Film zum Krieg

»Im Schmerz geboren«:
Blutrausch als gepflegte Unterhaltung

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland arbeitet mit einem vom Gesetzgeber festgelegten Bildungsauftrag. Dieser beinhaltet nicht nur die Verbreitung von Wissen und Information, sondern auch die Vermittlung von für das Zusammenleben in der Gesellschaft notwendigen Moral- und Wertvorstellungen. Dazu gehört an vorderster Stelle Orientierung im Umgang mit Gewalt; insbesondere in einer Zeit, in der Gewaltexzesse international eskalieren und nicht einmal die Kirchen dem etwas entgegensetzen.
Die Frage, wie viel und vor allem in welcher Form die Darstellung von Gewalt dazu beitragen kann, Abscheu und Ablehnung von Gewalt zu erzeugen, ist umstritten. Unterschiedliche individuelle Vordispositionen gesellschaftlicher, historischer und religiöser Natur verschärfen das Problem. Umso notwendiger ist es, über Kriterien nachzudenken, wie Darstellung von Gewalt in Dokumentation und Kunst beurteilt werden kann.
Wenn man davon ausgeht, dass die Darstellung selbst von Grauen notwendig ist, um eine Haltung zu unterstützen, die Gewalt ablehnt, bleibt nur noch die Beurteilung der künstlerischen und ästhetischen Form, in der sie gezeigt wird. Dabei zählt auch nicht die subjektive Absicht des Künstlers oder Dokumentaristen. Es geht nicht um die Behauptung, sondern um das Ergebnis: das, was zu sehen ist, und wie es gemacht wurde – nur daraus lässt sich ableiten, wie es wirkt.
Aus diesem Grunde ist es notwendig, das Phänomen der zunehmenden Gewaltdarstellung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu untersuchen. Schon vor 15 Jahren wirkte ich selbst in einem »Tatort« mit, in dem eine Vergewaltigung derart naturalistisch gezeigt wurde, dass die Zuschauer gerade mal vom Anblick der gynäkologischen Details verschont wurden. Der Regisseur erklärte dies mit redaktionellen Vorgaben, es widerte ihn selbst an, vor allem aber die betroffenen Schauspieler.
Inzwischen ist ausgefeilteste Brutalität in jedem der unzähligen ARD- und ZDF-Krimis achselzuckend hingenommene, nicht weiter hinterfragte Realität. Wenn dann von den Verantwortlichen auf die »geniale Machart« hingewiesen wird, klingeln nicht sämtliche Alarmglocken, sondern ist die Sache legitimiert. Das weist auf eine nicht hinterfragte Akzeptanz von Gewalt als Mittel der alltäglichen Auseinandersetzung hin, die parallel zur Eskalation der Gewalt als Mittel der weltweiten politischen Auseinandersetzung zu sehen ist. Mit der Konkurrenz der privaten TV-Anbieter ist dies nicht zu rechtfertigen. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten sind unabhängiger denn je, seit jeder Bürger sie bezahlen muss, selbst wenn er ihre Dienste gar nicht in Anspruch nimmt. Auch ihr gesetzlich vorgeschriebener Auftrag, gesellschaftsschädigenden Tendenzen entgegenzuwirken, wird dadurch noch größer.
Das Gegenteil ist der Fall. In einem ganz normalen ZDF-Krimi darf ein amtierender Polizist drei Menschen erschießen und zwar nicht in Ausübung seines Amtes, sondern aus persönlichen Rachemotiven, wofür sogar sein Chef Verständnis hat. Und er killt nicht nur, er zelebriert seine Morde, er quält seine Opfer vor ihrem Tod und das alles wird bis zum kleinsten Schweiß- und Blutstropfen in HD-Qualität ausgebreitet.
Aktueller Höhepunkt dieser Brutalisierung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist der »Tatort« des Hessichen Rundfunks: »Im Schmerz geboren«. Es wird erschossen, bei lebendigem Leibe im Main versenkt und erwürgt. Minutenlang wird die Todesangst von Opfern gezeigt – aber nicht etwa abschreckend, sondern ästhetisch verzückt, von beruhigender Trauermusik unterlegt: Der Genuss trieft allen Beteiligten aus allen Poren, wobei die Verantwortlichen für diese moralische Katastrophe alle Register modernster filmisch-technischer Mittel ziehen, wofür sie dann auch noch einen Preis und Preisgeld in Höhe von 20.000 Euro bekommen. Wer das sieht, wird nicht davon abgeschreckt, sondern auf höchstem Niveau daran gewöhnt.
Der Gipfel ist das Crescendo des Films, in dem sich eine von Drogen aufgeputschte Verbrecherbande ein Gefecht mit der Polizei liefert. In Zeitlupe spritzt das Blut, sirren die Kugeln, und dazu wird der Zuschauer von sanft melancholischer Verdi-Musik eingelullt. Massakerästhetik.
Wer hier noch behauptet, das schaffe kritisches Bewusstsein gegenüber Gewalt oder entlarve gesellschaftliche Strukturen, ist selbst längst Opfer dieses systematischen, die ganze Gesellschaft erfassenden medialen Abstumpfungsprozesses.
Ästhetisierung von Gewalt ist Verharmlosung.
Irgendwie dämmert das auch den Machern dieser öffentlichrechtlichen Blutorgie, und so blenden sie immer wieder einen Shakespeare-Zitator ein, der klarstellt: »Rache ist keine Lösung«. Die mediale Eigenart des Films ist aber, dies mit den Mitteln des Films, also auf unbewusster, unausgesprochener, indirekter Ebene zu vermitteln, das ist der Unterschied zur Analyse oder zum gesprochenen Wort. Wer seine Botschaft dazusagen muss, gesteht selbst ein, dass er sie mit anderen Mitteln, hier dem des Films, nicht zu vermitteln verstanden hat.
Im Falle von »Im Schmerz geboren« ging es allerdings sowieso nicht darum, sondern ums Gegenteil: Unterhaltung, Ablenkung, Verharmlosung, Lächerlichmachung; Gewöhnung an den Schrecken und Aufgeilung an Gewaltdarstellung. Der atavistische Affentanz zweier brusttrommelnder Großtadt-Gorillas mit MG-bewaffneten Affenhorden hinter sich wird mittels Verweisen kreuz und quer durch die Kulturgeschichte hypostasiert zum Gebet: Der Mensch ist und bleibt ein Tier, ein Affe mit Atombombe, wie schon Konrad Lorenz wusste. Die textbausteinartig abgespulte Behauptung, es ginge um Kritik daran, ist nur eine pseudoemanzipatorische Rechtfertigung für diese exzessive Ausbreitung der Gewaltdarstellung.
Die Botschaft ist eine gegenteilige: Gewalt hat keine gesellschaftlichen, politischen oder gar ökonomischen Ursachen, sondern geht von Irren aus – in diesem Fall einem psychisch kranken Drogenhändler. Das ist so, daran kann man nichts ändern, das war schon immer so – was ein bunter Zitatemix aus Weltliteratur, klassischer Musik und Westernglorie beweist. Und vor allem – und das ist das Zentrum der Botschaft –: Dagegen gibt es nur ein Mittel, nämlich noch mehr Gewalt. Das entspricht exakt den Anforderungen des globalen Zeitgeists.
Dieser Film spiegelt nicht gesellschaftliche Zustände wider, sondern ist selbst Spiegel und Motor gesellschaftlicher Zustände: Wenn selbst Bischöfe Waffenlieferungen fordern, anstatt mit ihren Kollegen von der anderen Variante der Anbetung desselben Gottes auch nur versuchen zu reden (wieso bietet sich der Papst nicht als Austauschgeisel an, wie es Genscher 1972 beim Attentat der Palästinenser auf die israelischen Olympiasportler getan hat?), dann ist klar, was die Uhr geschlagen hat, dann müssen die Menschen darauf eingeschworen werden, dass es für diese Irren wie IS oder wenn nötig auch Putin nur eine Antwort gibt: »Ab sechs Uhr wird zurückgeschossen.«
Deshalb ist dieser Film zum goldrichtigen Zeitpunkt gekommen. Bequem bei einem Glas Wein in den Sessel zurückgelehnt, bleibt einem, auch noch legitimiert durch die halbe Kulturgeschichte, nichts anderes übrig als – obwohl man es ja gar nicht will! – zu sagen: »Ja, schmeißt die Rüstungsschmieden an und gebt jedem Zunder, der nicht mitspielt.« Man darf nicht nur nicht töten, sondern, wie jetzt von höchstbischöflicher Seite verkündet wurde, auch nicht »töten lassen«, sozusagen das elfte Gebot: Lasst andere die töten, die töten, bevor diese uns töten, und rüstet sie dafür mit deutscher Qualitätsarbeit aus.
Der Hessische Rundfunk als Absatzförderer der deutschen Waffenindustrie. Das deutsche Fernsehen als Richter und Henker: Wer aus der Reihe tanzt, wird im Main versenkt – so geht es auch bei der Mafia zu. Die Flüchtlinge werden ja auch im Mittelmeer versenkt, jedem das seine. Dieser Film verwurstet wirklich alles, was es je an emanzipatorischen Ideen und Versuchen gegeben hat, aus dem Elend patriarchalischer Perspektivlosigkeit, wie sie heute von der Ukraine über Irak bis Mali neue Gipfel erstürmt, herauszufinden und zu einer friedfertigen Weltgesellschaft zu kommen.
Der Versuch einer »menage à trois«, lernen wir am bemüht zitierten Beispiel des Films »Jules und Jim«, ist nicht etwa ein Versuch, zu repressionsfreien Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu kommen, sondern führt zu Mord und Totschlag zwischen den Kerlen, das war schon immer so und wird immer so bleiben. Frauen sind Sexualobjekte und Gebärmaschinen, um die sich die Männer zu kloppen haben, damit beim Nachwuchs die stärksten Gene sich durchsetzen.
Nichts Neues also, nur neu aufgelegt.
Komik darf auch dabei sein: Während der Polizist und der Drogenbaron teuren Champagner trinken, müssen Brigaden von SEKSoldaten schwitzen und werden schließlich aus Mitleid nach Hause geschickt. Das Publikum beim Münchner Filmfest lacht brav. Am Schluss des Films werden alle Toten eben schnell nochmal augenzwinkernd lebendig gezeigt: Ist ja nur Film, das Publikum lacht brav.
»Im Schmerz geboren« – dieser Courths-Mahler-betitelte, mit Verdi unterlegte Shakespeare/Tarantino-Verschnitt ist die bislang raffinierteste Version, Abstumpfung gegenüber Gewalt mit Kritik an derselben zu verkaufen. Das kritiklose Gejubel über diese künstlerische Delikatesse führt sich selbst vor: Je besser etwas gemacht ist, desto besser wirkt es.
»Dieser Film ist trotz 47 Morden nicht brutal«, beteuert eine Barbara Möller in einer der vier größten Tageszeitungen der Republik. Quod erat demonstrandum. Morden ist immer brutal. Aber angesichts des weltweiten Mordens ist es an der Zeit, dieses altmodische Denken zu den Akten zu legen.
Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte ein einziges Foto, das den verzweifelten Blick einer Frau zeigte, an deren Schläfe eine Pistolenmündung gedrückt wird, die ganze Welt erschüttern und zum Ende des Vietnamkriegs beitragen, genauso wie die Empörung erzeugenden Dokumentationen von Bombardierungen Nordvietnams. Die erste Folge davon waren öffentlich-rechtliche Giftschränke, in denen derartige Aufnahme verbunkert wurden. Dieses Verfahren erzeugte nur sein Gegenteil: noch mehr Proteste. So entwickelte sich bald ein gegenteiliges Verfahren: Wir alle werden derart mit Bildern von Gewalt und Grausamkeit vollgeballert, bis nur noch jeder Mensch mit Abstumpfung und Verdrängung reagieren kann, keiner mehr betroffen ist.
Forscher in aller Welt untersuchen seit einigen Monaten die Attraktivität der von dem IS auf Facebook, Twitter etc. verbreiteten Propaganda für junge Menschen in Europa. Die ästhetisch perfekten Bilder von Kolonnen von Jeeps in der Wüste, auf denen vermummte Gestalten mit Maschinenpistolen posieren, genauso wie detailliert gepostete Fotos erschossener, erwürgter, geköpfter Menschen. Sie haben herausgefunden, dass die IS-Propaganda sich exakt an das Vorbild amerikanischer Kriegsfilme hält und damit wirbt, dieses nur Fiktionale endlich real werden zu lassen.
Wenn nun die deutsche Gesellschaft sich darüber wundert, dass viele junge Menschen nach Syrien oder in den Irak abwandern, um bei dem IS mitzukämpfen, sollte sie als erstes vor der eigenen Türe kehren: wo sie die gnadenlose Brutalisierung des deutschen Fernsehens in den letzten beiden Jahrzehnten findet.
Man sollte diesen Offenbarungseid des deutschen Fernsehens als nicht mehr zu überbietendes Alarmsignal begreifen, endlich die Killer- und Massakerorgie des öffentlich-rechtlichen Fernsehens einzustellen. Wenn Anstaltsleitungen, Redakteure, Regisseure und Drehbuchautoren vor dem Verwertungsdruck der Rüstungsindustrie kapitulieren, dann sollte wenigstens der Bundesrechnungshof diesen Missbrauch öffentlicher Gelder beenden. Die verantwortliche Redakteurin mit Leni Riefenstahl gleichzusetzen, täte ihr zu viel der Ehre an, sie ist selbst nur Rädchen im Getriebe und muss ihre Rente sichern, indem sie in vorauseilendem Gehorsam an sie gestellte, vermeintliche oder tatsächliche Erwartungen antizipiert. Aber sie erfüllt dieselbe Funktion: das Publikum, also die Gesellschaft mit Hilfe der Medien zu konditionieren, unerträgliche, immer grausamere Gewalttaten achselzuckend oder gar amüsiert als unabänderliche Tatsache hinzunehmen. Heißt der Bildungsauftrag etwa: Abstumpfung der Gesellschaft gegenüber Gewalt und Konditionierung junger Menschen zur Beteiligung an salafistischen Mordorgien?
1967 richtete ich in dem Film »Tätowierung« eine Plastikpistole auf meinen Ziehvater, ein Schuss fiel, er sank zu Boden. 1977 richtete ich eine echte Waffe auf einen Polizisten und es kam zu einem glücklicherweise nicht tödlichen Schusswechsel: Wenn ich beim Anblick dieses Filmes Abscheu und Wut empfinde, weiß ich, wovon ich rede, denn ich kenne beide Dimensionen aus eigener Erfahrung: Gewalt im Film und Gewalt in der Realität.
Darstellung von Gewalt hat in jedem Fall ungeheure tiefenpsychologische Wirkungen, deren Ausmaße niemand genau bestimmen kann. Wer hier auch noch diese Abschlachterei mit dem Bedürfnis der Menschen nach Unterhaltung zu rechtfertigen versucht, handelt zumindest grob fahrlässig: Unterhaltung und Abschreckung schließen sich gegenseitig aus.
Kunst besteht darin, nicht zu zeigen, was dargestellt werden soll, erst recht, wenn es um Gewalt geht. Nur so kann sie Schrecken und Abschreckung erzeugen. 1:1 dargestellte Gewalt verhindert Abschreckung. Gewalt als Unterhaltung schaltet kritische Reflexion aus. Vermittelt Gewalt als unabänderlich. Wenn man die Menschen mit der wirklichen Brutalität konfrontierte – z. B. Fotos der Gräuel in Darfur –, und zwar pur, 1:1, dann würden die Leute verrückt werden; die nachgemachte Brutalität hilft, die Brutalität zu ertragen, verharmlost sie: und ist damit Vorreiter und Legitimator und Ermöglicher der wirklichen Brutalität, brutalen Realität.
Als ich gestern mit meinem kleinen Sohn auf dem Spielplatz mit anderen Eltern sprach, konnte keiner dieser zur »Tatort«-Zielgruppe gehörenden Menschen diesem von allen Medien zum nationalen Ereignis hypostasierten Film etwas abgewinnen. Der einhellige Kommentar war: »krank«. Niemand aus meinem gesamten Bekanntenkreis hat sich diesen Film als Ganzes angesehen. Das lässt hoffen.
»Im Schmerz geboren« ist eine Chance. Eine einzigartige Gelegenheit, das Steuer herumzureißen und zum wirklichen Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zurückzukehren.




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